„Bist du im Call, Mama?“, fragen unsere Kinder, wenn sie uns mit unseren Computern sprechen sehen. Auch sie haben 2020 viel über die Arbeitswelt gelernt. Schließlich ist das, was die eigenen Eltern tun, jetzt oft nur eine Wohnzimmertür entfernt. Noch immer abstrakt und unverständlich, und doch viel näher dran als in den Jahren zuvor.
Was bleibt von diesem 2020, das uns alle so herausgefordert hat, dass wir müde und ausgelaugt seinem Ende entgegenfiebern, uns aber auch ehrfürchtig fragen, was 2021 so im Gepäck hat? Was darf, ja was soll bleiben? Und was muss bitte unbedingt wieder gehen?
Für uns persönlich ist es vor allem eine wilde Mischung aus Emotionen mit denen wir uns von 2020 verabschieden. Zum einen sind wir dankbar und demütig – weil wir unsere Arbeit komplett in die virtuelle Welt verschieben konnten. Weil wir weiterhin eng mit unseren Kunden zusammenarbeiten, Workshops geben, Interviews führen, Geld verdienen konnten. All das war problemlos möglich. Einfach so. Weil unser Job und die Digitalisierung im Jahre 2020 es erlauben.
Gleichzeitig haben wir – während wir so non-stop gemacht und getan haben, festgestellt, dass viel von dem ausbleibt, warum wir tun, was wir tun. Zusammenarbeit im Jahre 2020 fühlt sich anders an, einseitiger, was fehlt, ist das echte Miteinander. Die Energie, die entsteht, wenn man gemeinsam in einem Raum über einer Fragestellung brütet, wenn die Kundin einen Witz macht, der Kollege seufzt, wenn sich alle gemeinsam, hör-, seh- und spürbar über ein Ergebnis freuen. Wenn all das wegfällt, bleibt oft nur die Anstrengung – die Arbeit im rohen Sinne sozusagen.
Und wiederum gleichzeitig hat 2020 uns in unserem Tun, in unserer Arbeit an sich bestärkt: Das Jahr hat mit all seinen Ungewissheiten, der sozialen Isolierung sowie den gesellschaftlichen Kontroversen offen gelegt, wie wichtig das sich Verständigen auf eine gemeinsame Kultur innerhalb von Organisationen ist – die Definition eines festen Wertegerüsts, das Orientierung bieten kann und verbindet.
Was also bleibt von diesem 2020? 12 ganz unterschiedliche Stimmen ziehen hier ihr eigenes Resümee:

Yasmine M’Barek, Journalistin: „Die Zukunftsangst junger Generationen hat durch die Pandemie zugenommen“
„2020 hat entschieden, ob sich die Generationen weiter entfernen. Neben der Klimakrise stellte sich die Frage nach Solidarität und Schuld – diese zwei Punkte werden uns die nächsten Jahre massiver beschäftigen. Es droht ein neuer, größerer Generationenkonflikt. Die Zukunftsangst junger Generationen hat durch die Pandemie zugenommen, Ziel muss es sein, gemeinsam, vor allem politisch, diese Angst zu nehmen und Hoffnung zu schenken.“
Yasmine M’Barek
schreibt als freie Journalistin hauptsächlich über Politik und Wirtschaft. Nebenbei spricht sie über deutsche Innenpolitik und gesellschaftliche Themen auf ihrem Instagram-Account „Ceremonials of a Savage“ und in ihrem Podcast „Auf einen Polittee“.


Markus Grosse & Selina Mersdorf, All Artists Agency: „Plötzlich hat der Job, den man mit Leidenschaft ausübt, keine Relevanz mehr“
„Mit einem Job in der Live-Branche gingen wir davon aus, dass wir vor Krisen sicher sind. Gefeiert und Musik konsumiert wird schließlich immer. Im März 2020 wurden wir eines Besseren belehrt: Konzerte sind nicht systemrelevant. Eine schmerzhafte Erkenntnis in einer Branche, die geprägt ist von Egos und Wettbewerb. Plötzlich hat der Job, den man mit Leidenschaft ausübt, keine Relevanz mehr. Daraus nehmen wir grundsätzlich mit, dass man sich selbst und das was man tut, nie zu wichtig nehmen sollte. Uns fehlen die sozialen Kontakte mit den Kolleg*innen mehr, als wir uns hätten vorstellen können. Doch es ergeben sich auch neue Chancen.
Wir nutzen die Zeit, interne Prozesse zu optimieren, Arbeitsweisen zu reflektieren und zu verbessern und unseren ökologischen Fußabdruck zu überdenken. Wir lernen gerade, dass Meetings auch effizient(er) über Video-Calls abgehalten werden können, ohne dass man dafür quer durch die Republik reisen muss. Durch das Arbeiten im Homeoffice wird das Vertrauen innerhalb der Teams gestärkt und trotz der fehlenden physischen Kontakte sind wir ein Stück näher zusammengerückt – vielleicht sogar innerhalb der gesamten Branche. Von 2020 bleibt die Erkenntnis, dass nichts sicher ist, es aber trotzdem immer weitergeht. Außerdem der Wunsch danach auch zukünftige Aufgaben mit der neu gewonnenen Weitsicht und Gelassenheit anzugehen.“
Markus Grosse
war langjähriger stellvertretender Geschäftsführer der Four Artists Booking Agentur bevor er Anfang 2020 als Geschäftsführer bei der Konzertagentur All Artists Agency antrat. Dort treibt er auch gemeinsam mit Selina die kulturbasierte Unternehmensentwicklung voran.
Selina Mersdorf
hat sich während ihres Studiums mit den Schwerpunkten Personalmanagement und Unternehmensführung beschäftigt. Heute ist sie Projektmanagerin bei der All Artists Agency im Bereich Konzert- und Tournee-Booking und Teil eines Projekt-Teams für kulturbasierte Unternehmensentwicklung.

Maria Exner, Chefredaktion Zeitmagazin: „Bleiben soll das neue Miteinander – geprägt von mehr Respekt und Zusammenhalt“
„Ich würde die Frage gern in einen Wunsch umformulieren: Was soll bleiben von 2020? In diesem Jahr ist die Unvorhersehbarkeit in unser Leben und unser Arbeitsleben eingezogen. Und es scheint, sie ist gekommen, um zu bleiben. Oft wusste man nicht einmal mehr, was nächste Woche möglich – und was von Journalistinnen und Journalisten gefragt sein würde. Und was geschah? Führungskräfte mussten schnell entscheiden und klar Position beziehen: Schicken wir alle ins Homeoffice? Investieren wir trotz heranziehender Krise in ein neues Projekt? Alle im Team mussten für sich selbst, ihr Team und ihre Aufgaben deutlich mehr Verantwortung übernehmen. Das war mit großen Herausforderungen für alle verbunden. Aber wenn es gut ging, schien ein neues Miteinander im Job auf, geprägt von mehr Respekt vor der Situation des Einzelnen und mehr Zusammenhalt im Team und in der gesamten Redaktion. Das soll bleiben von 2020. Corona darf gern wieder gehen.“
Maria Exner
ist seit Dezember 2020 Co-Chefredakteurin des ZEITmagazins. Davor entwickelte sie als stellvertretende Chefredakteurin von ZEIT ONLINE mehrere digitale Magazin-Formate, darunter ZEITmagazin-Online, das Ideenfestival „Z2X“ und das mehrfach ausgezeichnete Dialog-Format „Deutschland spricht“.

Jan Knopp, Universität Basel: „Was ein Hörsaal bietet, kann eine App nicht ersetzen“
„2020 ist auf einmal sinnvoll, was vorher aufgezwungenes Marketing-Müssen und Lifestyle-Behauptung war. Zuvor verpufften all die Zusammenarbeit-New-Work-Apps und -Versprechen im Raum der universitären Lern- und Lehrarbeit. Doch jetzt, mit den Pandemie-Zwängen und Erfahrungen, gewinnt die wirtschaftlich getriebene digitale Transformation einen relevanten gesellschaftlichen Treiber. Somit stützen wir uns in der gesellschaftlichen Transformation nun auf digitale Mittel und Werkzeuge. Und plötzlich machen all diese Mittel und Werkzeuge Sinn, weil Erfahrung und Möglichkeitsraum Akzeptanz und Nutzungswille benötigen. Und hier sind wir. Katapultiert in die neue Welt, die allerdings erst einmal nur behebt, was in der alten Welt nicht mehr geht. Konzentrations- und Lernräume sind gleichwohl örtlich und im Bezug zum privaten Umfeld. Was ein Hörsaal bietet kann eine App nicht ersetzen. Den Konzentrationsraum. Was eine App aber bieten kann, ist die zeitliche Dehnung und individuelle Einordnung der Lehre in das persönlich mögliche Umfeld.“
Jan Knopp
leitet seit 2019 den CAS in Digitalen Kulturen an der Universität Basel. Davor war er an der Hochschule Gestaltung und Kunst HGK FHNW in Basel Dozent für Storytelling Through Design sowie Publizieren als gestalterische Praxis. Er ist außerdem Kulturunternehmer und mehrfach ausgezeichneter Gestalter. Mit seiner Agentur „Knopp + Kniel“ arbeitet er für nationale und internationale Auftraggeber*innen aus nachhaltigem Konsum, Architektur und Kultur.

Ingrid Adjoa Yeboah, Kanzlei iy.legal: „Plötzlich geht Akquise neuer Mandate auch virtuell“
„Klassische Netzwerk-Veranstaltungen besuchen, rausgehen, präsent sein, sich connecten – alles, was für mich die Akquise von neuen Mandaten ausgemacht hat, ist in 2020 weggefallen. Nach kurzer Flaute, habe ich in die virtuelle Welt geswitched, mir kompetente Unterstützung gesucht, Content produziert, Kanäle aufgebaut, die ich vorher nicht hatte – und ohne die Corona-Krise vielleicht gar nicht die Muße zu gehabt hätte: Business Instagram Account, Business Facebook und LinkedIn Account. Was bleibt ist vor allem die große Resonanz und das positive und schöne Feedback – viele haben meine Kanzlei virtuell geteilt und neue Menschen sind auf mich aufmerksam geworden. Dadurch konnte ich z.B. einige neue Mandate über Instagram generieren, wer hätte das gedacht.“
Ingrid Adjoa Yeboah
ist Rechtsanwältin für Urheber- und Medienrecht. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Vertretung und Beratung von Künstler*innen, Kreativen, Labels, Verlagen, Start-ups, Agenturen und Online-Unternehmen. Ihre Rechtsanwaltskanzlei „IY.LEGAL“ mit Sitz in Berlin-Mitte hat sie 2019 gegründet.

Antje Begemann, Lufthansa Technik: „Was bleibt ist das Vertrauen gegenüber meinen Mitarbeiter*innen.“
„Was für mich bleibt in 2020: das Vertrauen gegenüber meinen Mitarbeiter*innen, dass wir als Team, auch wenn wir uns nur virtuell sehen, trotzdem so gut funktionieren. Das macht mich glücklich. Ebenso wie die Flexibilität, die auf einmal da ist: wo und wann arbeite ich heute? Zu Hause, früh morgens, oder eher abends, im Café oder in meiner Heimat bei pflegebedürftigen Eltern. Niemand fragt und kontrolliert mich, wann ich das Büro verlasse, sondern fragt eher, wann ich einen Slot habe. Das gibt mir Zeitersparnis und Zufriedenheit. Dieser Wandel innerhalb eines Jahres – das hätte ich nie für möglich gehalten.“
Antje Begemann
ist Head of Account Management CIS, Scandinavia and Middle East bei der Lufthansa Technik AG.

Sibylle Olbert, Fachhochschule St. Gallen: „Die soziale und psychische Gesundheit wurden in 2020 vernachlässigt“
„Gezwungenermaßen haben wir uns in 2020 mit Fragen der körperlichen Gesundheit beschäftigt. Soziale oder psychische Gesundheit wurden hingegen vernachlässigt. Die Wahl des Begriffs Social Distancing kann als symptomatisch betrachtet werden und sollte zum Handeln veranlassen: Wie wollen wir unsere Beziehungen künftig gestaltet wissen? Technik und Datenanalyse suggerieren Berechenbarkeit und Genauigkeit. Resiliente Systeme sind auf ’soziale Fantasie‘ angewiesen, sowie unsere Fähigkeiten mit Unsicherheiten umzugehen und facettenreich Entscheidungen zu treffen. Letztlich geht Technisierung stets mit Standardisierung einher. Der Nutzen kann eine einfachere Verständigung sein – ohne aktive Maßnahmen zum Erhalt von Vielfalt ist genau sie ihr Preis.“
Sibylle Olbert
ist Professorin an der Fachhochschule St. Gallen. Sie hat dort das Kompetenzzentrum für Leadership und Personalmanagement aufgebaut. Schwerpunkte ihrer Forschung sind Talentmanagement, Diversity (Gender und Alter), Nachhaltiges Leadership in der Digitalisierung und Unternehmensentwicklung.

Lisa Jaspers, Folkdays: „Dieses Jahr hat neue, menschlichere Verbindungen geschaffen“
„Ich habe das Gefühl, dass neben all dem Grauen und der Angst, dieses Jahr auch neue, menschlichere Verbindungen geschaffen hat. Verbindungen zu uns selbst, Verbindungen zu den Menschen, die wir lieben, Verbindungen zu unseren Mitmenschen, Verbindungen zu den Kollge*innen. Verbindungen, in denen Gefühle wie Angst, Überforderung, Hoffnung und Solidarität Platz finden. Ich hoffe, dass wir uns diese menschlicheren Verbindungen, besonders in der Arbeitswelt, erhalten können.“
Lisa Jaspers
Lisa Jaspers betreibt seit 2013 das Mode- und Accessoire-Geschäft „Folkdays“ mit dem sie das Image von Fairtrade-Produkten aufpoliert und für Hunderte von Menschen in den ärmsten Regionen der Welt ein Einkommen schafft. Gerade erschien ihr Buch „Starting a Revolution“ mit dem sie sich gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Naomi Ryland für eine menschlichere Arbeitskultur stark macht.

Ruben Hauser, hauserpartner Architekten: „Ich hoffe, dass wir nicht mehr dahin zurückgehen, wo wir hergekommen sind.“
„Corona hat in unserem Unternehmen wie ein Katalysator gewirkt, der überfällige Veränderungen beschleunigt hat. Wer hätte noch vor einem Jahr gedacht, dass wir heute ein virtuelles Team-Meeting problemlos abhalten können, bei dem Mitarbeitende jeden Alters aus ganz Deutschland zugeschaltet sind? Was aus 2020 bleiben darf? Ich hoffe, dass wir nicht mehr zurückgehen, wo wir hergekommen sind. Wir haben so viel erreicht: Nicht denkbare Alternativen werden plötzlich gedacht. Andere Lebens- und Arbeitsmodelle sind plötzlich erlaubt. Aber auch Ungerechtigkeiten werden sichtbarer. Wir werden als Gesellschaft einen Weg finden müssen, damit umzugehen.“
Ruben Hauser
Ruben Hauser kommt aus der Welt der Tech Start-ups, in der er unter anderem bei Google und PEIX Healthcare Communication tätig war. Seit 2018 ist der Medienökonom im Führungsteam des familieneigenen Architekturbüros, wo er sich weiterhin mit Trends und Innovationen rund um Arbeits- und Lebensumgebungen der Zukunft beschäftigt.

Jana Tepe, Geschäftsführerin Tandemploy: „Wir konnten durch ortsunabhängige Arbeit unsere Produktivität steigern“
„Wir haben immer flexibel zusammengearbeitet. 2020 haben wir angefangen, die Möglichkeit von Homeoffice noch viel expliziter auszusprechen. Jetzt haben wir ein Anywhere Office, jeder darf also vom Ort der Wahl aus arbeiten. Selbst aus anderen Ländern. Mit dieser Art der ortsunabhängigen Teamarbeit konnten wir unsere Produktivität sogar steigern. Wir möchten das unbedingt beibehalten, auch als Geschäftsführerinnen vorleben: Ja, man kann wunderbar von den Bergen und vom Meer ein Unternehmen führen. Dennoch haben wir uns ganz bewusst dafür entschieden, unser Büro in Berlin zu erhalten – dafür aber ganz neu zu denken und umzubauen. Entstanden ist ein Begegnungsort, der auf die neuen Bedürfnisse angepasst ist. In Zukunft muss unser Arbeitsort besonders überzeugen, damit unsere Mitarbeiter*innen nach Berlin kommen.“
Jana Tepe
ist Co-Geschäftsführerin von „Tandemploy“. Das Unternehmen bietet Softwarelösungen zur Flexibilisierung von Arbeit und betreibt eine Plattform für Jobsharing. Von der BBC wurde Jana Tepe 2015 zu den einflussreichsten „30 under 30“ gewählt.

Ria Schäfli, Original Unverpackt: „2020 hat vielen gezeigt, dass dieses New Work möglich ist“
„Ich denke 2020 hat vielen gezeigt, dass dieses New Work möglich ist. Für uns war Homeoffice schon vorher ein Standard, den wir alle sehr schätzen und es uns ermöglicht, Leben und Arbeit besser zu verbinden. Ich hoffe, dass diese Erfahrung viele Unternehmen dazu bewegt, ihren Mitarbeiter*innen mehr Vertrauen und Freiheit zu geben.“
Ria Schäfli
ist bei dem Zero Waste Supermarkt „Original Unverpackt“ für Marketing und PR verantwortlich.
Illustrationen: Eva Dietrich
Fotos: Maria Exner: Diana Pfammatter für DIE ZEIT; Ingrid-Yeboah: Bea Grundheber; Lisa Jaspers: Lena Scherer; Ruben Hauser: Marcus Wendt