Forschen fürs Klima: „In der Wissenschaft brauchen wir eine emotionale Distanz“

Forschen fürs Klima: „In der Wissenschaft brauchen wir eine emotionale Distanz“

Hugues Lantuit ist Polarforscher, seit 16 Jahren beobachtet er die Veränderung des Permafrosts in der Arktis und leitet heute eines der weltgrößten Wissenschaftsprojekte in diesem Bereich. Warum er seine wissenschaftliche Arbeit liebt? Wegen der Kreativität! Der Freiheit! Der Selbstbestimmtheit! Ja klar, und interessant findet er dieses wichtige Thema natürlich auch.

Die Sonne strahlt an diesem Vormittag in Potsdam im tiefen Winter. Die Temperatur klettert in den zweistelligen Bereich. Es ist das richtige Wetter für einen Interviewtermin mit jemanden, der die Veränderung des Klimas seit 16 Jahren sehr genau beobachtet. Hugues Lantuit, gebürtiger Franzose, Wahl-Berliner, 42 Jahre, ist Geomorphologe, genauer: Polarforscher. Sein Spezialgebiet ist der Permafrost. Jedes Jahr reist er für seine Forschung über Monate in die Arktis. Bald geht es wieder los, ans nordwestliche Ende Kanadas, kurz vor Alaska liegt Herschel Island.

Eine kleine Insel auf der keine Menschen, dafür jede Menge Tiere wohnen, darunter auch Grizzlys und Eisbären. Hier forscht Hugues mit einem Teil seines Teams zu dem Thema über das immer wieder als tickende Klimazeitbombe gesprochen wird: der Permafrost. Ein Viertel der Böden der nördlichen Hemisphäre sind permanent gefroren, doch die Böden tauen. Und dadurch werden Treibhausgase wie Kohlendioxid und Methan freigesetzt. Experten gehen von genauso viel im Permafrost gespeichertem Kohlenstoff aus, wie in der Atmosphäre aktuell existieren. Setzt sich das frei, wird sich der Klimawandel noch einmal um einiges beschleunigen. Wie arbeitet es sich an einem Thema, das entscheidend für den Fortbestand der Zivilisation sein könnte? Und ist der Inhalt seiner Arbeit überhaupt Hugues’ Treiber?

Zur Person: Hugues Lantuit,

42, leitet als Geomorphologe die Arbeitsgruppe Permafrostküsten am Alfred-Wegener-Institut in Potsdam. Er gilt als einer der renommiertesten Wissenschaftler und Professoren in der Permafrost-Forschung. Aktuell leitet er das Forschungsprojekt Nunataryuk, eines der größten EU-Projekt in der Polarforschung, das die Auswirkungen des Permafrost-Tauprozesses auf das globale Klima untersucht.

Hugues, mittlerweile gilt der Klimawandel als größte Sorge der Deutschen. 71 Prozent fürchten eine Veränderung des Weltklimas. Mit dem Wissen, das Du hast: Kannst Du nachts noch schlafen?

Ja, ich kann. Ich muss! Wenn ich meine Arbeit gut machen will. Als Wissenschaftler*innen brauchen wir eine emotionale Distanz zu dem, was wir tun und zu den damit einhergehenden politischen Fragen. Wir müssen die Dinge objektiv darstellen. Das sage ich auch meinen Student*innen: Die Welt retten zu wollen, reicht nicht, um den wissenschaftlichen Weg zu gehen. Es muss einem auch liegen nach den wissenschaftlichen Prinzipien zu arbeiten. 

„Die Welt retten zu wollen, reicht nicht, um den den wissenschaftlichen Weg zu gehen. Es muss einem auch liegen nach den wissenschaftlichen Prinzipien zu arbeiten.“

Hugues Lantuit
Heißt das, Du verfolgst mit Deiner Arbeit gar nicht das Ziel, etwas gegen den Klimawandel zu tun?

Natürlich könnte ich zu den Klimakonferenzen reisen, dort Vorträge halten und mit meinem Wissen die globale Klimapolitik beeinflussen. Das tun einige meiner Kolleginnen und Kollegen, und das ist gut so. Aber mir ist es lieber, direkt etwas zu bewirken. Wir arbeiten mit Gemeinden vor Ort, wir reden mit den Leuten, die vom Klimawandel betroffen sind – deren Häuser beispielsweise auf durch den tauenden Permafrost erodierenden Böden gebaut sind, wir erarbeiten Fragestellungen, die den Menschen helfen sollen. Jedoch ist ganz wichtig: Deshalb tue ich nicht, was ich tue.

Sondern? Warum magst Du Deine Arbeit?

Ich habe keinen Chef, der mir sagt, was ich tun soll. Im Grunde mache ich, was ich will und arbeite komplett selbstbestimmt. Außerdem ist das, was wir machen sehr kreativ. Entgegen aller Vorurteile. In der Forschung braucht man ständig neue Ideen. Wir müssen uns immer wieder neue Fragestellungen ausdenken. Was will ich eigentlich noch wissen? Und wie komme ich da hin?

 „Ich arbeite komplett selbstbestimmt und mache im Grunde, was ich will – und das ist sehr kreativ. Entgegen aller Vorurteile. In der Forschung braucht man ständig neue Ideen.“

Hugues Lantuit

Die komplette Umsetzung seiner vielen Ideen bis ins letzte Detail gehört nicht unbedingt zu Hugues allergrößten Motivationsfaktoren. Bestimmte Aufgaben, wie beispielsweise die Laborarbeit, könnten andere besser, erzählt er, während er uns über das großzügige Areal des Potsdamer Wissenschaftsparks führt, wo auch das Alfred Wegener Institut, für das Hugues arbeitet, beheimatet ist. Die reine Laborarbeit würde ihm schnell zu einsam: “Ich brauche den ständigen Austausch, den Kontakt mit Menschen”.

Alle paar Meter bleibt Hugues stehen, begrüßt Kolleginnen und Kollegen, berichtet von Neuigkeiten, macht Scherze. Zeit für ein Pläuschen hier und ein Schwätzchen dort muss sein. „Hast Du die Presse wieder zu Besuch?“ ruft einer. Hugues flüstert uns lachend zu: „Merkt ihr es? Ich bin hier der Spaßvogel!“

Hugues liebt das Netzwerken. Menschen zusammenzubringen, in der Öffentlichkeit zu stehen. Interviews zu geben, gehört da dazu. Es macht ihm sichtlich Spaß von sich und seiner Arbeit zu erzählen. Charaktereigenschaften, die in der Wissenschaft nicht sonderlich verbreitet sind.

Früh hat Hugues begriffen, dass er sich damit abhebt von einigen Kolleginnen und Kollegen und dass dies nicht nur sein Schlüssel zum Erfolg werden kann, sondern auch der Nährboden für die langfristige Begeisterung an seiner Arbeit.

„Mein großer Vorteil ist aber: Ich kann quatschen, schlechte Witze machen, laut reden und nerven. Das ist in der Wissenschaft ungewöhnlich. Ich will nicht der beste Wissenschaftler der Welt sein, aber ich will für meine Themen begeistern.

Hugues Lantuit

In einem Artikel, „The Science of Schmoozing“ (Die Schmuse-Wissenschaft), erschienen in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift „Science“, kommt der Autor zu dem Schluss, dass Hugues unter anderem so erfolgreich ist, weil er unermüdlich nach neuen Partnerschaften giert und ein begnadeter Netzwerker ist.

Du bist 42 und hast bereits viel erreicht: Du hast die Association of Polar Early Career Scientists (APECS), eine Art Facebook für Polarwissenschaftler*innen, gegründet, zahlreiche viel beachtete Paper veröffentlicht, heute bist Du Professor am Alfred-Wegener-Institut und bist vertreten in einigen wichtigen Forschungsgremien. Aktuell leitest Du das größte wissenschaftliche Forschungsprojekt der EU. Was muss man dafür mitbringen?

Vor allem benötigt man ein internationales Netzwerk. Nach meiner Doktorarbeit 2008 war ich ständig unterwegs. Dort habe ich viele Wissenschaftler*innen kennen gelernt. In dem Zuge habe ich auch APECS gegründet. Aber natürlich muss man auch geliefert haben. Du brauchst nicht mit Einstein mithalten können, aber anerkannt solltest Du sein – durch wichtige Veröffentlichungen, akademische Titel, Forschungsergebnisse. Mein großer Vorteil ist aber: Ich kann quatschen, schlechte Witze machen, laut reden und nerven. Das ist in der Wissenschaft ungewöhnlich. Ich habe ein großes Ego. Ich will nicht der beste Wissenschaftler der Welt sein, aber ich will begeistern.

Hinter der Geschichte

Vor dem Interview war uns etwas bange. Wie ticken Wissenschaftler*innen, die sich seit 16 Jahren mit den Folgen des Klimawandels beschäftigen? Was sagt uns so jemand über die Zukunft des Planetens? Wir waren überrascht, einen Mann voller Lebenslust zu treffen, der von Rotwein schwärmt, gutem Käse und verdienten Zigarettenpausen. “Für die Erde wäre es am besten, wir würden die Zivilisation ausrotten, ja. Aber solange es uns Menschen gibt, müssen wir das Leben auch genießen. Das heißt nicht, dass wir nichts ändern können – wir müssen dringend etwas ändern. Aber wir müssen auch gelassen bleiben.“

Konntest Du Dir zu Studiumbeginn vorstellen, dass Dein Arbeitsbereich mal das Zukunftsthema der Erde sein wird?

Nein. Aber damals wusste man auch noch nicht, was man heute übers Thema weiß. Wenn das im Permafrost gespeicherte Kohlenstoffdioxid freigesetzt wird, wird es wärmer auf der Erde. Und dann haben wir ein Problem. Das ist eine Tatsache. Dadurch interessiert unsere Arbeit immer mehr Menschen. Und dadurch kommen unsere Paper in immer größere Zeitschriften. Und dadurch kriegen wir immer mehr Geld für unsere Forschung. Und mehr Möglichkeiten.

Aktuell bedeutet das: 11,5 Millionen Euro. Das Forschungsprojekt Nunataryuk ist eines der größten EU-Projekte in der Polarforschung, dessen Leitung Hugues verantwortet. Gemeinsam mit 28 internationalen Partnerorganisationen untersucht er, welche Auswirkungen der Tauprozess des Permafrosts auf das globale Klima hat. Seit 2017 läuft das Projekt – 2022 wird es abgeschlossen. Basierend auf den Forschungsergebnissen werden die Wissenschaftler*innen unter anderem Strategien für die arktischen Küstenbewohner entwickeln, wie diese ihr Leben an die Gegebenheiten anpassen und die Auswirkungen gegebenenfalls abmildern können.

Als wir Hugues besuchen, stecken Hugues und sein Team gerade in den Vorbereitungen für eine weitere Forschungsexpedition. Vier Wochen werden sie auf Herschel Island verbringen. Ein paar kanadische Ranger*innen werden dort schon auf sie warten, wenn sie nach mehrtägiger Reise ankommen. Sonst wäre die Gefahr zu groß, dass das Flugzeug nicht landen kann – immer wieder wird die kurze, betonierte Strecke, die als Landebahn dient, durch Unwetter oder Überschwemmungen verwüstet.

„Ich hatte nie diesen Wissenschafts-Traum. Ich lasse mich gern vom Leben überraschen.“

Hugues Lantuit

Über Wochen und Monate nehmen Hugues und sein Team dann wieder Proben von den Böden aus unterschiedlichen Tiefen, führen Messungen durch, fahren hinaus aufs Meer, wandern über die Insel. Das Leben dort ist einfach und der Biorhythmus der Forscher*innen während des gesamten Aufenthalts gestört. Denn es nie dunkel. Daher fällt das Schlafen zu den gewohnten Zeiten schwer, oft stehen sie erst am Nachmittag auf. Da ist es sicherer nicht zu lange am Stück zu arbeiten. Denn Müdigkeit und Unkonzentriertheit kann man sich auf Herschel nicht erlauben. Wetter, das plötzlich umschlägt, Bären, die sich in der Nähe aufhalten, schwerer Seegang, der die Boote zum Kentern bringen kann: „Wenn wir in der Arktis sind, habe ich keine Angst. Das ist wohl mein größtes Glück“, sagt Hugues.

Hugues, letzte Frage: Wie wurdest Du eigentlich, was Du bist, wer hat Dich unterstützt?

Ehrlich gesagt hatte ich nie diesen Wissenschafts-Traum. Ich lasse mich gern vom Leben überraschen. Ich habe in Paris Geographie studiert, ganz einfach weil ich Karten mag. Dann hatte ich Lehrer, die mich faszinierten. Es gab einen Kurs über kalte Regionen – ich mag kalte Regionen. So kam eins zum anderen. Meinen Doktorvater lernte ich in Kanada kennen, wo ich zum Austausch war. Irgendwann holte er mich hier nach Potsdam, wo ich dann promoviert habe und eine Juniorprofessur hatte – und heute als Wissenschaftler und Professor arbeite. Eine meiner wichtigsten Grundsätze, und das gilt fürs Berufliche wie fürs Private wie für alle Ergebnisse meiner Forschung: Gelassenheit ist wichtig!

Fotos Absatz 1, 2 und 3: Alfred Wegener Institut