

Raphael wartet schon auf uns vor dem Vitra Design Museum. Schwarzes Shirt, schwarze Hose, weiße Sneaker. Wir sind sofort beim Du. Er ist gerade angereist aus seinem Heimatdorf, das am Fuße des Bayerischen Walds liegt, wie er uns berichtet, erst morgen geht es für ihn weiter. “Ich habe den ganzen Tag Zeit für euch”. Raphael hat nicht nur viel Zeit, sondern vor allem jede Menge Energie mitgebracht. Wer mit dem 50-Jährigen unterwegs ist, spürt, dass Tage wie diese seinem Alltag entsprechen: neue Menschen treffen, viel reden, unterwegs sein und über den Arbeitsplatz der Zukunft berichten. Gerade war er in Seoul in Südkorea, davor im chinesischen Shenzhen. Raphael steht auf mehreren hundert Bühnen im Jahr, wo er darüber berichtet, was er auf seinen Reisen erlebt und sieht und welche Schlüsse er daraus zieht.
Wenn von der Zukunft der Arbeit die Rede sei, würden, so sagt er, immer zwei Themen dominieren: Digitalisierung und Fachkräftemangel. Da höre es schon auf. “Die veränderte Arbeitswelt hat jedoch sehr viel mehr zu bieten als das”, sagt er, “und dieses Mehr sollte uns wachsam halten!” Mit seinen Reisen begibt er sich auf die Suche nach diesem Mehr. Als “Future of Work Trendscout” des Möbelherstellers Vitra will er erfahren, welche Themen und Neuerungen den Arbeitsplatz der Zukunft prägen werden. Gemeinsam mit einem Team von Studenten fasst er seine Erkenntnisse alle 18 Monate in sogenannten “Work Panoramen” zusammen. Vitra nutzt diese Informationen, um moderne Arbeitsumgebungen zu entwickeln und auch vielen anderen Unternehmen dienen diese als Richtungsvorgabe.


Zur Person: Raphael Gielgen
Jahrgang 1969, war nach Schreinerausbildung und Kaufmannslehre für die Büromöbelhersteller Bene und Steelcase in der Beratung, Geschäftsführung und Kommunikation tätig. Dann startete er bei Vitra, um das große Ganze zu erforschen: Wie werden wir in Zukunft arbeiten, wie wird der Arbeitsplatz der Zukunft aussehen? Als “Future of Work Trendscout” forscht er nach sozialen, technologischen und gestalterischen Trends rund um die Arbeitswelt. Dafür reist er 200 Tage im Jahr durch die Welt, besucht Büros und trifft visionäre Unternehmer.


Raphael, du beschreibst dich selbst als Satellit, schwirrst umher und störst die Kollegen mit Informationen. Die entwerfen auf Basis dieser Informationen den Arbeitsplatz der Zukunft. Wie sieht der aus?
Den einen Arbeitsplatz der Zukunft wird es nicht geben. Das Zweimannbüro mit Grünpflanze und Kalender wird genauso existieren wie das Büro in der virtuellen Realität. Das heißt, wir können uns auf die komplette Bandbreite einstellen. Und aus dieser Bandbreite werden die Menschen wählen können. Bei Vitra gehen wir dennoch davon aus, dass Einzelschreibtische, wie wir sie aktuell benutzen, die letzten ihrer Art sind.
Weil?
Weil am Einzelschreibtisch keine neuen Werte mehr entstehen. Das Kollektiv entscheidet zukünftig über die Relevanz eines Unternehmens. Es gibt auch nicht mehr das eine Genie. Vielleicht noch vereinzelt. Doch selbst die Genies, die ich kennengelernt habe, haben nur Bedeutung übers Kollektiv, über die Verbindung ihres Wissens und ihrer Disziplin mit anderen.
„Baut man ein Unternehmen nur auf Rebellen auf, fliegt einem der Laden um die Ohren.“
Raphael Gielgen
Was bedeutet das für den Schreibtisch?
Das bedeutet, dass weder der Schreibtisch noch der Schreibtischstuhl das Möbel am Arbeitsplatz der Zukunft sind. Die kollektiven Bereiche machen das Rennen. Zum einen sind das sogenannte Transitzonen wie Eingangshallen, Durchgangsbereiche oder Caféküchen. Dort geht es um zufällige und spontane Begegnungen, die uns eine besondere Energie geben und ein Gefühl von Gemeinschaft vermitteln. Zum anderen sind das die kollektiven Arbeitsbereiche wie die kreative Werkstatt, wo kreative Prozesse räumlich verortet werden. Dort geht man hin, um an einer bestimmten Fragestellung zu arbeiten. Man teilt sein Wissen und daraus entsteht etwas Neues.



Work Panorama
Was Raphael Gielgen auf seinen Reisen sieht und lernt, wie sich Arbeitsroutinen, -szenarien und -räume verändern werden, fasst der Future of Work Trendscout alle 18 Monate in einem Chart zusammen. In der aktuellen Fassung steckt er acht Kernthemen ab, die ihm zufolge die Veränderungen der Arbeitswelt prägen: Human Core (der Mensch im Zentrum), Campus Community (die Gemeinschaft am Campus), Cluster Economy (Netzwerke schaffen), Talent Transfer (Begabungen weitergeben), Machine Minds (Mensch vs. Maschine), Permanent Beta (alles bleibt anders), Ecofriendly (umweltfreundlich) und Transversality (das Gegenteil von normal).

Bedeutet das, die herkömmlichen Büroformen, wie wir sie kennen, werden ganz verschwinden?
Verschwinden wird erst einmal nichts. Wir haben kürzlich die letzte Steinkohle in Prosper-Haniel gefördert. Wie lange haben wir auf das Ende gewartet? 20 Jahre! Genauso ist es mit der Arbeit. Auf der einen Seite gibt es die, die auf der Internationalen Raumstation ISS arbeiten, auf der anderen Seite die, die neben einem Gummibaum sitzen und tagein tagaus der gleichen Arbeit nachgehen. Das ist das Spektrum. Und das wird noch weiter auseinanderdriften.
„Arbeit vor dem Computer ist in der Regel unsichtbar. Jedes Unternehmen kann aber Architektur anders denken und versuchen, Arbeit sichtbar zu machen.“
Raphael Gielgen
Genau dieses Spannungsfeld braucht es sogar innerhalb einer Firma, sagst du. Es braucht den Progressiven und den Bewahrer. Warum eigentlich?
Baut man ein Unternehmen nur auf Rebellen auf, fliegt einem der Laden um die Ohren. Das Bewahrende sowie das Rebellische hat seine Stärken. Das Bewahrende gibt Orientierung, Halt, Sicherheit, Beständigkeit. Das Rebellische bringt Innovation, Neugier, den Mut andere Wege zu gehen. Idealerweise kombiniert man beides miteinander.
Du sagst: “Jedes Unternehmen kann Architektur anders denken und versuchen, Arbeit sichtbar zu machen und die Gemeinschaft zu verorten.” Was heißt das, wie geht das, warum ist das wichtig?
Arbeit vor dem Computer ist in der Regel unsichtbar. Der Sitznachbar lernt nicht von dem, der ausschließlich in seine Maschine spricht. Die Full Service Digitalagentur R/GA in New York hat das beispielsweise erkannt und in ihrem neuen Headquarter Arbeit sichtbar gemacht: Im Mitarbeiter-Restaurant hängen oben an der Decke 32 riesige Screens mit Laserprojektion. Da können alle ihre Arbeit präsentieren. Was wurde gerade für Chrysler oder Nike gemacht? Wer arbeitet an welchem Auftrag? Auf einmal nimmt man an den Projekten der anderen teil, fühlt sich zugehörig und die Arbeit der unterschiedlichen Teams wird sichtbar.


Das Vitra Citizen Office
Das Großraumbüro von Vitra, platziert in einer schmucklosen Produktionshalle auf dem Vitra Campus, wurde 1991 gegründet und 2010 von der britischen Innenarchitektin Sevil Peach neu gestaltet. Seitdem heißt es Citizen Office, gemacht für den mündigen Bürger, der – je nach Aufgabe und Uhrzeit – unterschiedliche Bedürfnisse an seinen Arbeitsplatz hat. Von Bereichen für Gruppenarbeit bis zu Einzelschreibzellen. Die Abteilung „Interior Design Services“, die bei Vitra Unternehmen dabei unterstützt, ihre „Cultural Frameworks“ in die eigene Innenarchitektur zu übersetzen, lädt Neukunden stets zunächst in ihr Citizen Office, weil es zeigt, was möglich ist – auch ohne perfekte Herausforderungen.




Und weiter gefragt: Wie verortet man Gemeinschaft?
Gleiches Beispiel: Bei R/GA teilen sich ungefähr 1.000 Mitarbeiter einen Eingang, der nicht besonders groß ist. So erreicht die Firma automatisch eine starke physische Vernetzung. Sie haben ein Loch, da müssen alle rein und raus. Die Möglichkeit sich dort zu begegnen ist relativ hoch.
Eine weitere deiner Thesen: „Das Büro hat den Menschen, den es beherbergt, der es nutzt und braucht, aus den Augen verloren“. Inwiefern?
Na überall! Wir haben irgendwann aufgehört das Büro in Frage zu stellen. Ich sage immer, die Menschheit hat sich in Standards organisiert. Ich wünschte, Unternehmen würden mal sagen: Wir machen die kommenden drei Monate keinen Verlust, auch keinen riesigen Gewinn, stattdessen machen wir ein Sabbatical, um uns als Firma wieder zu spüren und uns die zentrale Frage zu stellen: Wer sind wir und was ist unser Cultural Framework? Erst wenn wir wissen, was die Menschen im Raum bewegt, was ihre Muster sind, können wir wirklich sagen, ob sie überhaupt noch einen Stuhl und einen Tisch brauchen oder vielleicht ganz was anderes.
„Hat ein Unternehmen sein Cultural Framework definiert, spürt man das beim Betreten des Gebäudes, beim Gespräch mit der Führung, im Umgang der Mitarbeiter untereinander.“
Raphael Gielgen
Du sprichst vom “Cultural Framework” eines Unternehmens. Was bedeutet das?
Jede Firma hat kulturelle Rahmenbedingungen, sie sind vielschichtig und immer individuell. Hat ein Unternehmen sein Cultural Framework definiert, spürt man das beim Betreten des Gebäudes, beim Gespräch mit der Führung, im Umgang der Mitarbeiter untereinander. Eine Unternehmenskultur hingegen wird oft auf einfache Werte wie Vertrauen oder Loyalität reduziert, die losgelöst voneinander funktionieren. Die kulturellen Rahmenbedingungen sind weitreichender. Sie funktionieren wie eine Anleitung für die Unternehmensarchitektur. Alles greift ineinander.
Hast du Beispiele für uns?
Wer den Adidas-Campus bei Herzogenaurach betritt, spürt sofort den Sport, das Performative, die Gemeinschaft. Es gibt Meeting-Areale, da hat man das Gefühl, man sei in einer Schiedsrichterkabine vom Eishockey oder in einem Workout-Raum einer Football Mannschaft. Oder Price Waterhouse Coopers – die haben mittlerweile weltweit ihre Experience Center mit denen sie einen neuen architektonischen Zugang zum Großraumbüro bieten und die flexibel umgestaltet werden können: verschiebbare Wände und Möbel für kollaborative Bedürfnisse. Oder Amazon in Seattle: Im Januar eröffnete Jeff Bezos drei große Gewächshäuser im Zentrum der Stadt. Bezos wusste schon vor Jahren etwas, was den meisten von uns nicht klar war. Dass die Menschen wieder einen starken Bezug zur Natur entwickeln würden. Diesen bietet er jetzt seinen Mitarbeitern. Seit dem ersten Eröffnungstag sind alle Gewächshäuser sehr gut besucht. Die Leute gehen zum Kaffeetrinken aus dem 29. Stockwerk ihres Amazon-Büros kurz herunter, über die Straße, ins Gewächshaus.






Abgesehen vom Adidas-Campus berichtest du selten von guten Beispielen aus Deutschland. Sind die Deutschen zu zurückhaltend?
In Deutschland gelten wir als Könige der Industriellen Ökonomie. In das Thema Effizienz und Optimierung haben wir über Jahrzehnte unsere ganze Energie gesteckt. Aber wir haben nie die Systemfrage gestellt. Zusammenhänge werden nicht mehr gesehen. Was fehlt ist die Offenheit für Veränderung, Ausbruch und Neu-Erfindung.
Bleiben wir bei deutschen Unternehmen: Du sagst, die deutsche Architektur war lange eine Architektur der Kontrolle. Inwiefern kann Architektur kontrollieren?
Das fängt schon damit an, wo man sitzt. Welche Etage, wie groß ist die Fläche? Wer beim Autobauer in der Konzernzentrale seinen Schreibtisch hat, hat oft automatisch das Gefühl, was zu melden zu haben, egal ob dem wirklich so ist. Wer von seinem Arbeitsplatz aus alle beobachten und sehen kann, wenn sich einer raus schleicht, hat auch eine gewisse Kontrolle. Und wenn der Raum deiner Gedanken 16 Quadratmeter groß ist, dann kontrolliert der Raum dich, denn dann endet dort alles, was du denkst.
Ist es eigentlich wirklich so wünschenswert in fabelhaft individuell ausgestalteten Räumen zu arbeiten? Wenn auf alle möglichen Bedürfnisse von mir eingegangen wird, bin ich vielleicht bereit, das, was ich wirklich will, zu vernachlässigen. Kurz gefragt: Verleiten die Räume zu Mehrarbeit und Überlastung?
Ein schönes Büro ist doch nicht dafür verantwortlich, dass die Menschen länger hackeln! Das kommt eher durch sozialen Druck. Der Gegenentwurf wäre ja: Halb so lang arbeiten, aber dafür in hässlichen Räumen. Man kann tolle Räume haben, aber wenn die unternehmerische Fürsorge nicht gegeben ist, hat auch alles andere keinen Wert. In der Prioritätenliste ganz oben sollte deshalb die Wertschätzung der einzelnen stehen, niemand sollte das Gefühl erhalten, er sei nur eine Ressource.