“Freiheit ist entstanden als ich verstanden habe, dass ich immer eine Entscheidung treffen kann.” – Ein Gespräch mit Linda Leinweber und Ali Mahlodji.
In Zusammenarbeit mit everyworks blicken wir auf die Megatrends der Arbeitswelt. Für die fünfte und letzte Folge haben wir die Psychologin Linda Leinweber und den umtriebigen Unternehmer Ali Mahlodji zum Gespräch gebeten. Und diesmal wurde es persönlich. Denn unsere These lautete: Die Arbeitswelt der Zukunft ist individuell und selbstbestimmt. Welche Arbeitskultur brauchen wir, damit möglichst viele Menschen passend zu ihrem Lebensmodell und den eigenen Bedürfnissen arbeiten können? Und was haben Unternehmen davon?
Nachdem wir in den ersten vier Folgen unserer Reihe “Perspektiven auf die Arbeitswelt von Morgen” schon so vieles über die Megatrends Dezentralität, Nachhaltigkeit, Automatisierung und Inklusion lernen durften, wird es in der fünften Folge ein wenig persönlicher. Denn dieser Trend beschreibt, was wir selbst an unserer Arbeit so lieben: Der Arbeitsplatz der Zukunft ist individuell und selbstbestimmt.
Wir versuchen uns im Team möglichst große Autonomie und Handlungsspielräume zu geben. Und wir wünschen uns, dass die Arbeit zum Leben passen darf – oder eben zur jeweiligen Lebensphase. Was uns aber natürlich brennend interessiert hat, ist der professionelle Blick auf das Thema.
An einem leuchtenden Frühlingstag machen wir uns genau dafür auf den Weg zum Berliner Hauptbahnhof. Im 10. Stock, mit Panoramablick und einer Extra-Portion Sonne, erwartet uns bereits Psychologin und Coach Linda Leinweber, die unsere These zusammen mit uns einordnen soll. Kurz darauf schaltet sich mit kleiner Verspätung auch Ali Mahlodji aus Wien zu und erklärt lachend, dass er seine Arbeitszeiten eben manchmal an die Morgenroutine seiner 3-jährigen Tochter anpassen müsse.
Dearwork
Linda, unsere heutige These lautet: Die Zukunft der Arbeitswelt ist individuell und selbstbestimmt. Was verstehst du unter diesen beiden Begriffen?
Linda Leinweber
Für mich bedeutet Selbstbestimmung und Individualität, dir selbst die Erlaubnis zu geben auf deine Bedürfnisse zu hören, danach zu handeln und für dich selbst Entscheidungen zu treffen. Selbstbestimmung ist außerdem eines der vier psychologischen Grundbedürfnisse. Genauso wie wir essen, trinken und schlafen müssen, gilt es diese psychologischen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Sonst wird es für die Psyche sehr schwer, gesund zu sein oder zu werden. Das ist so als wäre das eigene Wachstumspotenzial und Wohlbefinden dauerhaft beschnitten. Wer nie Selbstbestimmung lernt, bleibt immer in einer Abhängigkeit.
Ich persönlich habe mich mit meiner Selbstständigkeit dazu entschieden, die meiste Zeit remote zu arbeiten. Im Vordergrund steht für mich der Arbeitsort, den ich mir selbst aussuche – und an dem ich es schaffe meine Arbeitszeit zu begrenzen. Ich habe kein Problem mich zu motivieren, sondern eher damit, meine Grenzen zu ziehen. Das fällt mir leichter, wenn ich in einer Umgebung bin, die ich wirklich genießen möchte. Für mich gehört es auch zu selbstbestimmter Arbeit, entscheiden zu können, mit welchen Kunden ich zusammenarbeiten und welche Projekte ich inhaltlich unterstützen will. Bei den Arbeitszeiten ist meine Selbstbestimmtheit manchmal ein bisschen limitiert, weil ich gerade in 1:1-Coachings viel mit Privatpersonen zusammenarbeite und mich da natürlich schon anpassen muss. In meinem Einflussbereich achte ich aber darauf, meine Arbeit so zu gestalten, dass es mir gut dabei geht.
”IN MEINEM EINFLUSSBEREICH ACHTE ICH DARAUF, MEINE ARBEIT SO ZU GESTALTEN, DASS ES MIR GUT DABEI GEHT.”
Linda Leinweber, Psychologin und Coach
Dearwork
Ali, inwiefern würdest du dein eigenes Arbeitsleben als selbstbestimmt und individuell beschreiben?
Ali Mahlodji
Ich würde es als sehr individuell beschreiben. Auch mein Team weiß, dass ich morgen theoretisch alles komplett anders machen könnte. Diese Flexibilität ist mir wichtig. Ich glaube, ich habe ein sehr hohes Maß an Flexibilität – obwohl ich da natürlich auch von Faktoren wie meiner kleinen Tochter und meiner Familie abhängig bin. Ich weiß, welchen Preis ich für meine Individualität bezahle, aber in der Arbeitswelt kann ich damit sehr gut leben.
Dearwork
Welche Hürden sind dir auf diesem Weg begegnet?
Ali Mahlodji
Die größte Hürde im Leben ist man immer selbst. Natürlich gibt es auch Dinge, die von außen passieren. Ich bin in einem Flüchtlingsheim aufgewachsen, habe die Schule hingeschmissen, ich war Ausländer, habe einen komischen Nachnamen, habe als Kind gestottert. Das sind Dinge, die von außen passiert sind und mein größtes Hindernis war, dass ich mir von diesen äußeren Dingen habe erzählen lassen, dass ich es nicht schaffe. Freiheit ist entstanden als ich verstanden habe, dass die Dinge von außen sowieso passieren, ich aber immer eine Entscheidung treffen kann. Ich werde auch heute immer noch von Leuten angegriffen, von mir wird behauptet, dass ich ein komischer Träumer sei. Doch am Ende, wenn dann alles funktioniert, entschuldigen sie sich. Diese Hürden sind für mich mittlerweile keine Hürden mehr, sondern Signalgeber, die mir zeigen, dass ich etwas richtig mache. Immer wenn du im Leben Hürden hast, musst du das als Training sehen, wie im Sport. Wenn du stärker werden willst, gehst du ja auch freiwillig ins Fitnessstudio und beginnst immer schwerere Gewichte zu stemmen. Hürden sind das Training des Lebens.
“JEDE ORGANISATION KANN MORGEN ENTSCHEIDEN, DASS SIE SELBSTBESTIMMTES UND INDIVIDUELLES ARBEITEN EINFÜHRT.”
Ali Mahlodji, Unternehmer und Mentor
Dearwork
Das Persönliche hätten wir also geklärt. Inwiefern würdet ihr unserer These generell mit Blick auf die Arbeitswelt zustimmen?
Ali Mahlodji
Selbstbestimmt war die Arbeitswelt immer schon. Weil uns nie jemand gezwungen hat, einen Job anzunehmen. Die Menschen haben es sich viele Jahre zu leicht gemacht, ständig die Stelle zu wechseln und dann ihr Lebensunglück dem Arbeitgeber zuzuschieben. Dabei leben wir im Herzen Europas in einer Arbeitswelt, in der Arbeitgeber genauso abhängig sind von Arbeitnehmer*innen wie umgekehrt. Hinzu kommt: Durch die zunehmende Komplexität der letzten zehn Jahre, durch Digitalisierung, Globalisierung und durch einen kompletten Shift in unserem Verständnis, haben sich die Anforderungen an Organisationen gewandelt. In Studien sagen Führungskräfte bereits seit knapp einer Dekade, dass die Komplexität ihrer Aufgaben zunimmt und sie diese Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen müssen. Selbstbestimmte Arbeit ist also nicht entstanden, weil plötzlich alle sagen, wir sind so lieb und sehen das Potenzial der Menschen. Sondern da ist ein unfassbarer Need in den Führungsetagen, Komplexitäten zu verteilen und schnell zu agieren auf einem globalen Markt, wo jedes Start-Up dich morgen mit einem Feature überholen kann. Da muss ich es schaffen, auf die Kraft der ganzen Organisation zuzugreifen.
Linda Leinweber
Ich hoffe zumindest sehr, dass die These stimmt. Denn es ist sehr viel leichter das eigene Potenzial zu leben, wenn du auf deine Bedürfnisse hören und Verantwortung für deine Entscheidungen übernehmen darfst. Das kann sich am Anfang auch sehr überfordernd anfühlen, gerade wenn man vorher nicht gewohnt war, für sich selbst Entscheidungen zu treffen. Selbstbestimmung muss man ein Stück auch lernen. Ich wünsche mir, dass wir in diesen Befähigungsprozess reinkommen und dass Menschen diesen Mut dann auch entwickeln dürfen. Dafür braucht es aber auch gewisse Rahmenbedingungen.
Dearwork
Welche Rahmenbedingungen sind das für euch? Was brauchen Menschen um selbstbestimmt und individuell handeln zu können?
Linda Leinweber
Das hat für mich ganz viel mit dem Thema Führung zu tun. Gibt mir meine Führungskraft wirklich eine psychologische Sicherheit? Ist da eine Vertrauensbasis? Wie werde ich an die Hand genommen? Habe ich das Gefühl, dass mir der Rücken gestärkt wird? Es geht für mich auch stark um eine Vertrauenskultur in der es möglich, ja sogar gewünscht ist, dass Fehler gemacht werden. Dadurch ist eine ganz andere menschliche Entwicklung möglich.
Ali Mahlodji
Das Ganze ist ein Prozess. Es ist wichtig sich zu fragen, was man strukturell abbilden kann. Führungskräfte benötigen die richtigen Schulungen. Organisationen brauchen die richtige Struktur, in der sich Menschen entfalten dürfen. Und den richtigen Boden, auf dem sich die Kulturen einschwingen dürfen. Das ist von Organisation zu Organisation individuell. Wir müssen nicht warten bis die Arbeitswelt diese Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt. Jede Organisation kann morgen entscheiden, dass sie selbstbestimmtes und individuelles Arbeiten einführt. Es ist eine Frage des Mindsets, ob ich den Leuten etwas zutraue, ob ich Fehler zulasse und ob ich aushalte, dass auch mal jemand meinen Entscheidungen widerspricht. All das muss nicht nur von der Politik gefördert werden, sondern intern von den Organisationen gewollt sein.
Dearwork
Inwiefern profitieren Organisationen davon, wenn ihre Mitarbeitenden selbstbestimmt und individuell handeln?
Linda Leinweber
Wer sich traut, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, erlebt weniger Leerlaufphasen. Denn ich warte ja nicht mehr darauf, dass mir irgendjemand sagt, was ich zu tun habe. Sondern ich habe ein Projekt, um das ich mich selbstbestimmt kümmere. Ich entscheide wie der Weg aussieht, und wie mein Tag strukturiert ist. Das heißt, ich würde Vorteile darin sehen, dass die Produktivität steigt, die Effizienz sich verbessert. Und dass Menschen einfach motivierter sind, weil sie den Tag abwechslungsreich gestalten können. Und von zufriedenen Mitarbeitenden kann jedes Unternehmen nur profitieren.
Dearwork
Braucht es dann überhaupt noch gemeinsame Arbeitsorte, wenn wir vollständig individuell und selbstbestimmt arbeiten?
Linda Leinweber
Ich glaube schon, dass es Orte der Zusammenkunft braucht. Ob das ein physischer oder ein virtueller Ort ist, ob dieser Ort einer Firma gehört oder ob man sich den mit Anderen teilt – da gibt es ganz viele Konzepte, in denen wir neu denken dürfen. Aber damit ein verbindendes Element bleibt und das Wir-Gefühl nicht verloren geht, ist es schon wichtig, dass wir regelmäßig zusammenkommen und eine Beziehungsebene aufgebaut werden kann. Was wir nicht vergessen dürfen: die Beziehungsebene trägt immer die Sachebene! Wenn wir gut miteinander arbeiten wollen, ist es wichtig, dass wir uns menschlich nah sind. Und damit meine ich nicht, dass wir die ganze Zeit über private Themen sprechen müssen, sondern dass man irgendwo miteinander connectet. Das ist in einem gemeinsamen Raum einfach leichter.
Dearwork
Ali, du arbeitest viel mit Jugendlichen und Berufseinsteiger*innen. Wie wichtig ist Selbstbestimmung und Individualität für die Entwicklung von jungen Menschen? Was gibst du ihnen konkret mit auf den Weg?
Ali Mahlodji
Das eine ist: In wenigen Jahren seid ihr die Erwachsenen dieser Welt und ihr solltet nicht warten bis ihr erwachsen seid, um Entscheidungen zu treffen. Eure Entscheidungen trefft ihr ab heute. Es ist vielleicht nicht immer möglich, je nachdem wo ihr aufwachst, wer eure Eltern sind, auf welcher Schule ihr seid. Aber ihr dürft für euch im Kopf schon sehr wohl die Entscheidung treffen, wer ihr sein wollt. Denn: ein großes Problem der Erwachsenen ist, dass sie irgendwann auf ihr Leben zurückblicken und merken, sie waren nur ein Objekt der Erwartungen und haben den Sprung in die erwachsene Selbstständigkeit des Lebens nicht hinbekommen. Dabei haben wir ganz viele Herausforderungen, die wir nur generationenübergreifend lösen können: Klimawandel, Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften, die Schere zwischen Arm und Reich und vieles mehr.
Und auf individueller Ebene ist Gelassenheit das Wichtigste. Gib dir Zeit um herauszufinden: Wer bin ich eigentlich? Was will ich wirklich? Was kann ich nicht? Wo hole ich lieber andere Leute dazu? Wenn du aus der Schule kommst, hast du keine Ahnung wer du bist. Null. Du weißt, wie du zu sein hast, durch Social Media. Ich will lieber mitgeben: Gelassenheit. Geduld. Und ruhig mal von den Erfahrungen älterer Menschen lernen, weil sie zwar vielleicht die moderne Welt nicht immer verstehen, aber alle Abkürzungen des Lebens kennen.
“ICH BRAUCHE EINEN ZUGANG ZU MIR UND SPÜRBARE SIGNALE, OB EINE ENTSCHEIDUNG GUT FÜR MICH IST.”
Linda Leinweber
Dearwork
Muss man sich selbst gut kennen, um selbstbestimmt eigene Entscheidungen treffen zu können?
Linda Leinweber
Absolut. Deswegen ist für mich Achtsamkeit auch so wichtig. Also zu lernen sich selber zu spüren, zum Beispiel durch Yoga, vielleicht aber auch mit Meditation, über den Atem, oder eher mit Selbstreflexionsübungen wie Tagebuch schreiben. Ich brauche einen Zugang zu mir und ich brauche spürbare Signale, ob eine Entscheidung gut für mich ist.
Dearwork
Linda, hast du noch einen Tipp, wie unsere Leser*innen sich selbst auf den Weg zu selbstbestimmtem, individuellem Arbeiten machen können?
Linda Leinweber
Jede*r kann sich immer wieder bewusst machen: Was ist mein Circle of Power? Und: Was ist mein Circle of Sorrows? Letzteres sind Rahmenbedingungen, die wir nicht ändern können, auch wenn wir uns noch so sehr darüber ärgern. Damit verschwenden wir nur unsere Energie. Im Gegensatz zum Circle of Power, den man aktiv gestalten kann. Du kannst entscheiden, wie deine Morgenroutine aussieht, was du bei der Arbeit essen möchtest, wann du aktive Pausen einbauen oder eine Atemübung machen willst. Das kann bedeuten, früher aufzustehen, um Zeit für Sport zu haben. Das kann aber auch bedeuten, aktiv auf meine Führungskraft zuzugehen und um Unterstützung zu bitten, weil ich spüre, dass die Arbeit gerade nicht mehr zu mir und meinem Lebensstil passt. Diese enge Verbindung intern zu fördern, Vertrauen aufzubauen – und gleichzeitig selbstbestimmt den eigenen Kosmos so gestalten, dass er zu mir passt.