Instagram
LinkedIn

„Der Einzelschreibtisch hat ausgedient“ – Vitra-Trendscout Raphael Gielgen über das Büro von Morgen.

Alle reden über den Arbeitsplatz der Zukunft. Kaum jemand kann mehr über ihn berichten als Raphael Gielgen. Der “Future of Work Trendscout” reist für den Design-Möbelhersteller Vitra um die Welt und besucht ungefähr 100 Büros und Unternehmen im Jahr. Ein Interview auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein.

Raphael wartet schon auf uns vor dem Vitra Design Museum. Schwarzes Shirt, schwarze Hose, weiße Sneaker. Wir sind sofort beim Du. Er ist gerade angereist aus seinem Heimatdorf, das am Fuße des Bayerischen Walds liegt, wie er uns berichtet, erst morgen geht es für ihn weiter. “Ich habe den ganzen Tag Zeit für euch”. Raphael hat nicht nur viel Zeit, sondern vor allem jede Menge Energie mitgebracht. Wer mit dem 50-Jährigen unterwegs ist, spürt, dass Tage wie diese seinem Alltag entsprechen: neue Menschen treffen, viel reden, unterwegs sein und über den Arbeitsplatz der Zukunft berichten. Gerade war er in Seoul in Südkorea, davor im chinesischen Shenzhen. Raphael steht auf mehreren hundert Bühnen im Jahr, wo er darüber berichtet, was er auf seinen Reisen erlebt und sieht und welche Schlüsse er daraus zieht.

Wenn von der Zukunft der Arbeit die Rede sei, würden, so sagt er, immer zwei Themen dominieren: Digitalisierung und Fachkräftemangel. Da höre es schon auf. “Die veränderte Arbeitswelt hat jedoch sehr viel mehr zu bieten als das”, sagt er, “und dieses Mehr sollte uns wachsam halten!” Mit seinen Reisen begibt er sich auf die Suche nach diesem Mehr. Als “Future of Work Trendscout” des Möbelherstellers Vitra will er erfahren, welche Themen und Neuerungen den Arbeitsplatz der Zukunft prägen werden. Gemeinsam mit einem Team von Studenten fasst er seine Erkenntnisse alle 18 Monate in sogenannten “Work Panoramen” zusammen. Vitra nutzt diese Informationen, um moderne Arbeitsumgebungen zu entwickeln und auch vielen anderen Unternehmen dienen diese als Richtungsvorgabe. 

Dearwork

Raphael, du beschreibst dich selbst als Satellit, schwirrst umher und störst die Kollegen mit Informationen. Die entwerfen auf Basis dieser Informationen den Arbeitsplatz der Zukunft. Wie sieht der aus?

Raphael Gielgen

Den einen Arbeitsplatz der Zukunft wird es nicht geben. Das Zweimannbüro mit Grünpflanze und Kalender wird genauso existieren wie das Büro in der virtuellen Realität. Das heißt, wir können uns auf die komplette Bandbreite einstellen. Und aus dieser Bandbreite werden die Menschen wählen können. Bei Vitra gehen wir dennoch davon aus, dass Einzelschreibtische, wie wir sie aktuell benutzen, die letzten ihrer Art sind.

dearwork

Weil?

Raphael Gielgen

Weil am Einzelschreibtisch keine neuen Werte mehr entstehen. Das Kollektiv entscheidet zukünftig über die Relevanz eines Unternehmens. Es gibt auch nicht mehr das eine Genie. Vielleicht noch vereinzelt. Doch selbst die Genies, die ich kennengelernt habe, haben nur Bedeutung übers Kollektiv, über die Verbindung ihres Wissens und ihrer Disziplin mit anderen.

„Hat ein Unternehmen sein Cultural Framework definiert, spürt man das schon beim Betreten des Gebäudes.“

Raphael Gielgen, Vitra Trendscout
dearwork

Was bedeutet das für den Schreibtisch?

Raphael Gielgen

Das bedeutet, dass weder der Schreibtisch noch der Schreibtischstuhl das Möbel am Arbeitsplatz der Zukunft sind. Die kollektiven Bereiche machen das Rennen. Zum einen sind das sogenannte Transitzonen wie Eingangshallen, Durchgangsbereiche oder Caféküchen. Dort geht es um zufällige und spontane Begegnungen, die uns eine besondere Energie geben und ein Gefühl von Gemeinschaft vermitteln. Zum anderen sind das die kollektiven Arbeitsbereiche wie die kreative Werkstatt, wo kreative Prozesse räumlich verortet werden. Dort geht man hin, um an einer bestimmten Fragestellung zu arbeiten. Man teilt sein Wissen und daraus entsteht etwas Neues. 

dearwork

Du sagst: “Jedes Unternehmen kann Architektur anders denken und versuchen, Arbeit sichtbar zu machen und die Gemeinschaft zu verorten.” Was heißt das, wie geht das, warum ist das wichtig?

raphael gielgen

Arbeit vor dem Computer ist in der Regel unsichtbar. Der Sitznachbar lernt nicht von dem, der ausschließlich in seine Maschine spricht. Die Full Service Digitalagentur R/GA in New York hat das beispielsweise erkannt und in ihrem neuen Headquarter Arbeit sichtbar gemacht: Im Mitarbeiter-Restaurant hängen oben an der Decke 32 riesige Screens mit Laserprojektion. Da können alle ihre Arbeit präsentieren. Was wurde gerade für Chrysler oder Nike gemacht? Wer arbeitet an welchem Auftrag? Auf einmal nimmt man an den Projekten der anderen teil, fühlt sich zugehörig und die Arbeit der unterschiedlichen Teams wird sichtbar.

dearwork

Und weiter gefragt: Wie verortet man Gemeinschaft?

raphael gielgen

Gleiches Beispiel: Bei R/GA teilen sich ungefähr 1.000 Mitarbeiter einen Eingang, der nicht besonders groß ist. So erreicht die Firma automatisch eine starke physische Vernetzung. Sie haben ein Loch, da müssen alle rein und raus. Die Möglichkeit sich dort zu begegnen ist relativ hoch.  

dearwork

Du sprichst vom “Cultural Framework” eines Unternehmens. Was bedeutet das?

raphael gielgen

Jede Firma hat kulturelle Rahmenbedingungen, sie sind vielschichtig und immer individuell. Hat ein Unternehmen sein Cultural Framework definiert, spürt man das beim Betreten des Gebäudes, beim Gespräch mit der Führung, im Umgang der Mitarbeiter untereinander. Eine Unternehmenskultur hingegen wird oft auf einfache Werte wie Vertrauen oder Loyalität reduziert, die losgelöst voneinander funktionieren. Die kulturellen Rahmenbedingungen sind weitreichender. Sie funktionieren wie eine Anleitung für die Unternehmensarchitektur. Alles greift ineinander.

dearwork

Du sagst, die deutsche Architektur war lange eine Architektur der Kontrolle. Inwiefern kann Architektur kontrollieren?

raphael gielgen

Das fängt schon damit an, wo man sitzt. Welche Etage, wie groß ist die Fläche? Wer beim Autobauer in der Konzernzentrale seinen Schreibtisch hat, hat oft automatisch das Gefühl, was zu melden zu haben, egal ob dem wirklich so ist. Wer von seinem Arbeitsplatz aus alle beobachten und sehen kann, wenn sich einer raus schleicht, hat auch eine gewisse Kontrolle. Und wenn der Raum deiner Gedanken 16 Quadratmeter groß ist, dann kontrolliert der Raum dich, denn dann endet dort alles, was du denkst.